Inclusify-Vorstand Marco Richardson mit einer AR-Brille.
Hinter dem Firmennamen der Inclusify AG in Nürnberg steckt mehr, als sich auf den ersten Blick erkennen lässt. Denn das 2018 gegründete Start-up beschäftigt sich zwar dem Namen nach mit Inklusion im Sinne von Integration und Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Gesellschaft und Berufswelt. Diese landläufige Begriffserklärung greift allerdings zu kurz. Inclusify interpretiert Inklusion nach dem breiteren Ansatz der Soziologie: Demnach geht es um die Einbindung von Menschen, die beispielsweise aufgrund persönlicher Merkmale ausgegrenzt sind. „Wir denken Inklusion weiter“, erklärt Gründer und Vorstand Marco Richardson. Man sei nicht gemeinnützig, sondern verfolge als Wirtschaftsunternehmen eine klare Gewinnabsicht. Auch eine Bezeichnung als reiner E-Health-Betrieb greife zu kurz. Vielmehr ist es Richardson, Jahrgang 1981, ein Anliegen, im Privatleben und in der Berufswelt Menschen einzubinden. „Dabei geht es nicht um Behinderungen im klassischen Sinne, sondern um das Andocken von Minderheiten an das große Ganze.“ Das kann beispielsweise in der Industrieproduktion bedeuten, Sprachbarrieren in der Fertigung zu überbrücken oder einen unterschiedlichen Bildungsstand auszugleichen.
Richardson illustriert das mit Erfahrungen aus seinem Kundenkreis während des Lockdowns aufgrund der Corona-Pandemie. Die Inbetriebnahme einer neuen Maschine in Brasilien scheiterte am Covid-19-Kontaktverbot, ein Flug nach Südamerika war für die Servicetechniker nicht möglich. Beim ausgewählten Maschinenführer vor Ort wurde dann aber festgestellt, dass er nicht lesen und schreiben kann. Solche „Behinderungen“ lassen sich durch Lösungen von Inclusify überbrücken. Das inklusive Potenzial einer sogenannten Datenbrille war Richardson schon bewusst, als er noch beim US-Software-Riesen Microsoft tätig war. Ein Jahr lang bereitete er sich auf die AG-Gründung vor und holte sich Finanzexperten als Co-Gründer mit an Bord. Für den gelernten Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung, der seine Laufbahn bei der Nürnberger Datev startete, war der Sprung in die Selbstständigkeit ein kalkulierbares Risiko. Er hält nichts davon, Angst vor dem Gründen zu schüren: „Es ist so riskant, wie man es sich macht.“ Wäre er gescheitert, wäre er wieder zurück in seinen früheren Beruf gegangen. Für die Rechtsform der AG sprach für Inclusify, dass sie von Anfang an erlaubte, das Gründer-Duo und die vier Mitarbeiter vom Start weg über ein Beteiligungsmodell mit Geschäftsanteilen auszustatten. Im Blick standen aber auch schon künftige Investoren.
Reale und virtuelle Welt verschmelzen
Herzstück des Geschäftsmodells ist eine Datenbrille auf Basis der Mixed-Reality-Brille „Hololens“ von Microsoft. Damit wird der Blick auf die Wirklichkeit mit sogenannten Augmented-Reality-Anwendungen (AR) kombiniert. Mit der integrierten Technik lassen sich beispielsweise die Umgebung erkennen und dazu die entsprechenden Informationen direkt ins Sichtfeld projizieren. Mit diesem AR-Ansatz lassen sich reale und virtuelle Welt kombinieren oder verschmelzen. Die Bedienung, etwa das Weiterscrollen in einem Text, erfolgt durch das sogenannte Eyetracking, also dem automatisierten Nachverfolgen der Augenbewegungen. Datenbrillen sind technisch mittlerweile so ausgereift, dass sie mit den Funktionen eines Smartphones mithalten können. Neben der Entwicklungsarbeit standen am Anfang erst einmal viele Vorträge und Gespräche, um Bekanntheit in den Märkten zu erlangen und das Potenzial der Technologie aufzuzeigen. Eine erste Erfahrung war allerdings, dass es bei etwa 80 Prozent der Kontakte bei Gesprächen geblieben ist. Die zweite Erkenntnis war, dass man schnell im Medizinbereich angesiedelt wird, weil man immer erst mit dem Etikett „Irgendetwas mit Krankheiten und für behinderte Menschen“ versehen werde, erklärt Richardson, der im Unternehmen für fachliche Expertise, Technik und Bedarfserhebung zuständig ist.
Zu den ersten Kunden zählen der Verein „Aktion Mensch“ und das Hamburger Museum des Fußballvereins FC St. Pauli. Für das Museum entwickelte Inclusify die Lösung „Blindspotter MR (Mixed Reality)“, die auch blinden und sehbehinderten Menschen durch dreidimensionale Soundsignale eine freie Bewegung im Raum erlaubt. Zusätzlich sind Ausstellungsinhalte zu hören. Eine ähnliche Lösung wird gerade auch für das Zukunftsmuseum Nürnberg entwickelt. Zunächst legte aber der Corona-Lockdown 2020 das öffentliche Leben und damit auch den gesamten Museumsbetrieb lahm. „Das war auch für uns ein Tal der Schmerzen“, sagt Richardson. Schritt für Schritt wurde deshalb das Geschäftspotenzial gerade im produzierenden Gewerbe stärker ausgebaut. Denn plötzlich verhinderten Reisebeschränkungen und Zutrittsverbote in Unternehmen beispielsweise das übliche Service- und Instandhaltungsgeschäft entlang von Produktionsstraßen. Auch die Inbetriebnahme neuer Maschinen oder Schulungen waren praktisch kaum noch möglich.
Richardson entwickelte ein komplexes Modul der Bedarfserhebung, um die konkreten Probleme in den Unternehmen genau zu analysieren. Denn vor Ort beim Kunden finden sich immer wieder diverse Teams mit unterschiedlichen Bildungsständen und Sprachkompetenzen. Mal kenne sich in der Produktion niemand mit der neuen Technik aus und könne sie nicht bedienen. Teils versuchten Maschinenbauer, im Lockdown ihren Kunden eine Fernwartung über Webcam und WhatsApp anzubieten. Mal scheitert der reibungslose Betrieb einer Maschine an menschlichen Befindlichkeiten. Damit meint er auch Schwierigkeiten aufgrund des demografischen Wandels: „Die Älteren wollen manchmal ihr Wissen nicht teilen, um ihre Position in der Abteilung abzusichern, oder sich kurz vor der Rente nicht mehr in neue Themen reinknien.“
Individuelle Lebenssituation analysieren
Bei der Bedarfserhebung wird die individuelle Lebenssituation der Servicekräfte oder der Produktionsmitarbeiter analysiert. Manchmal kommt dabei heraus, dass Schwierigkeiten am Band nicht am Faktor Mensch, sondern an der neuen Technik liegen. Da liefert ein Hersteller eine neue Maschine mit Touch-Display, obwohl der Bediener vor Ort immer Sicherheitshandschuhe tragen muss. Hier sieht Inclusify viel Potenzial: „Wenn wir Menschen mit Behinderung, etwa Contergan-Geschädigte ohne Arme, eine technische Steuerung ermöglichen können, dann können wir es auch für Menschen mit Sicherheitshandschuhen.“ Nach der Analyse kommen dann die technischen Bausteine der Nürnberger AG, eine individualisierte Mediendatenbank, die Umsetzung von AR in eine Anwender-App oder ein Sprach-Bot-Assistent, der auch mehrsprachig funktioniert. „Mit diesen Lösungen lassen sich die Barrieren für Teilhabe überbrücken“, sagt Richardson.
Rückenwind für die Ausrichtung auf die Industrie bekommt Inclusify durch den Mehrheitsgesellschafter, das IT-Unternehmen ACP Holding Österreich GmbH in Wien. Richardson wurde nach einem Vortrag von der Firma angesprochen. Da Inclusify 2019 bereits auf der Suche nach Investoren war, um die eigene Entwicklungsgeschwindigkeit zu erhöhen, entpuppte sich der Kontakt als „Glücksfall“. Man habe Ende 2019 einen strategischen Geldgeber mit Verständnis für Software-Entwicklung und einem attraktiven Vertriebsnetz bekommen. Im Geschäftsjahr 2020/2021 (1. April bis 31. März) setzte Inclusify einen kleinen einstelligen Millionen-Euro-Betrag um, der bei ACP konsolidiert wird. Für das laufende Geschäftsjahr rechnet Richardson mit einem weiteren Zuwachs im zweistelligen Prozentbereich. Die Zahl der Mitarbeiter lag zuletzt bei 14 und stieg im laufenden Jahr auf 15 feste und zwei freie. Neben dem Stammsitz Nürnberg sitzen die Inclusify-Beschäftigten auch in Berlin und Bremen: „Wir sind eine dezentrale Einheit, denn wir können nicht Inklusion predigen, aber alle im Nürnberger Büro sitzen.“