Autonome mobile Roboter können in Betrieben zahlreiche Aufgaben übernehmen. Welche Einsatzgebiete sind möglich?
Der Kollege Roboter ist in den Produktionshallen längst kein Unbekannter mehr. Kleine flexible Roboter können auch Arbeitsschritte zwischen Lager und Fertigung überbrücken oder selbstständig für einen Mitarbeiter benötigte Teile kommissionieren. Anwendungsbeispiele aus der Praxis zeigte das Webinar „Autonome mobile Roboter“, das die nordbayerischen IHKs zusammen mit der Kompetenzinitiative „Automation Valley Nordbayern“ veranstaltet haben.
Autonome mobile Roboter (AMR) sind autonome, intelligente Systeme, die über die klassische Automatisierung hinaus einen „gewissen Grad an Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit“ haben, wie Prof. Dr. Stefan May erklärte. Der Professor für Automatisierungstechnik und Mechatronik an der Technischen Hochschule Nürnberg hat dort vor zehn Jahren ein Labor für mobile Robotik eingerichtet. Dort beschäftigt er sich mit Robotern, die im Produktionsablauf effizienter als der Mensch assistieren und unterstützen können. Die Autonomie dürfe allerdings nicht überschätzt werden, ein eigenständiges Denken und Entscheiden der Maschinen sei nicht möglich. Vielmehr gehe es darum, dass die Roboter definierte Aufgaben autonom und eigenständig ausführen. May illustriert das mit Aufgaben wie Einparken oder Fahrten zwischen zwei vorgegebenen Punkten – zu denen der Roboter nicht eigenständig beispielsweise einen dritten Ort hinzufügen darf.
Weil ein mobiler Roboter immer wissen muss, wo er sich befindet, war früher dafür immer eine spezielle Infrastruktur notwendig. So waren die Systeme beispielsweise auf reflektierende Marker oder Funksignale in der Fertigungshalle angewiesen, um sich dann autonom zu orientieren. Prof. May, der zugleich Gründer und Geschäftsführer der Nürnberger Evocortex GmbH ist, hat sich dieses „Schlüsselproblems“ angenommen und Lösungen für die Lokalisierung weiterentwickelt. Seine Technologie kommt ohne die bisher notwendigen „Hilfsmittel“ an Hallendecke oder -boden aus und spart so aufwändige Vorbereitungen und Installationen ein. Stattdessen haben die autonomen mobilen Roboter nur ihre Onboard-Kameras dabei, mit denen sie sich durch die Hallen orientieren. Die Raumgeometrie erfasst der mobile Roboter über den sogenannten SLAM-Ansatz („Simultaneous Localization and Mapping“) – es wird also gleichzeitig eine Karte erstellt und darauf die eigene Position bestimmt.
Hochpräzise Standortbestimmung
Hierfür scannt der Roboter detailliert den Hallenboden oder die Hallendecke und schafft so eine hochpräzise Lokalisierung. May beziffert die Genauigkeit mit unter einem Millimeter Abweichung auf einer Fläche von einem Quadratkilometer. Mit dieser Genauigkeit kann beispielsweise exakt in eine Anlage hineingefahren oder ein sicheres Andockmanöver absolviert werden. Für diese Technologie läuft aktuell die Patentanmeldung, die SLAM-Software kann als Open-Source-Paket bei der TH Nürnberg heruntergeladen werden. Evocortex bietet auch Roboterbaukästen, die je nach Einsatz etwa mit Aufbauten als Werkstückträger ausgerüstet werden können.
Jörn Meißner, Sales Manager bei der Baumüller Anlagen-Systemtechnik GmbH & Co. KG aus Nürnberg, skizzierte bei dem IHK-Webinar Szenarien für den Einsatz in der agilen Produktion. Die meisten Anwendungsmöglichkeiten sieht er in der Intralogistik, also dem Transport von Gegenständen auf Betriebsgeländen und in Betriebsgebäuden. Baumüller geht jedoch darüber hinaus und entwickelt für die Roboter komplexe Aufbauten für spezielle Funktionen. Es eröffneten sich damit völlig neue Möglichkeiten für die Gestaltung von Produktionsprozessen, so Meißner.
AMR können mit unterschiedlichen Funktionsaufbauten perfekt für spezifische Anwendungen genutzt werden – beispielsweise für Fördertechnik, Luftreinigung, Beschriftung oder auch Messaufgaben. Mit einem Roboterarm als Aufbau kann der AMR bedarfsgenau zwischen Produktionslinien wechseln und verschiedene Aufgaben erledigen. „Damit bekommt die Fertigung eine Flexibilität und Agilität, die es so noch nicht gegeben hat“, so Meißner.
Ein weiteres Szenario ist der Einsatz mehrerer Fahrzeuge mit gleicher Aufgabe, um die Gesamtleistung zu erhöhen. Beispielsweise können Luftreiniger gerade in Corona-Zeiten autonom über eine Kamera die anwesende Menschenmenge erfassen und im Bedarfsfall einfach weitere Luftreinigungs-Roboter zum Einsatz bringen.
Flexible Roboter-Gruppen
Ein ganz junger Ansatz ist es, AMRs mit verschiedenen anderen Geräten zu kombinieren und so temporäre Arbeitseinheiten zu bilden, die sich nach erledigter Aufgabe wieder trennen und dann andere Aufgaben übernehmen können. Meißner erklärt dieses Prinzip am Beispiel einer Maschinenbestückung: Ein AMR mit Roboteraufbau bestückt eine Maschine mit Teilen, die ein zweiter AMR auf einem Tablett („Tray“) zuliefert. Das Gleiche funktioniert auch umgekehrt, um etwa Material zu entsorgen. Ist die Aufgabe erledigt, findet das gleiche Procedere nach Anforderung von der nächsten Maschine statt, gegebenenfalls kommt bei Bedarf ein weiterer AMR mit Material-Tray hinzu. Bei einer kleinen AMR-Flotte mit drei unterschiedlichen Funktionsaufbauten kann auf Anforderung eine temporäre Funktionsgruppe in der Halle gebildet werden, die in einer sogenannten Schwarmfunktionalität eine bestimmte Aufgabe abarbeitet. Der andere Teil der Flotte kann weiterhin Einzelaufgaben erledigen oder im Duo eine Fertigungslinie mit Material bestücken oder dieses entsorgen.
Auch wenn diese neue Gestaltung von Prozessen und Arbeitsplätzen erst einmal einfach klingt, warnt Meißner vor zu viel Blauäugigkeit. Es stecke eine ganze Menge an Planung, Programmierung und Administration dahinter. Dafür entstünden äußerst flexible Möglichkeiten, die trotz Prozessänderungen in der Fertigung etwa Umbauten unnötig machen können. „Wir befinden uns am Anfang einer sehr dynamischen Entwicklung, bei der bisher fest verbaute Maschinen und Anlagen mobil werden.“
Tomasz Humiennik von der Altdorfer Niederlassung der Jugard + Künstner GmbH fächerte mit weiteren Praxisbeispielen die Breite der Anwendungen auf. Das Unternehmen ist ein etablierter Lieferant im Bereich der Automatisierung und offizieller Distributor der dänischen Universal Robots, ein Anbieter von verschiedenen Robotern mit Roboterarmen. Bei Jugard + Künstner liegt ein Fokus auf kollaborierenden Robotern, die als fahrerlose Transportsysteme oder mit Roboterarmen ohne zusätzliche Sicherheitstechnik mit Menschen zusammenarbeiten können. Ein Beispiel für eine realisierte Lösung ist ein Roboter für einen Medizintechnikbetrieb, der Baugruppen zwischen verschiedenen Fertigungsbereichen transportiert. Nachdem er zunächst per Lasertechnik die Umgebung kartiert hat, sucht er sich selbstständig den Weg zu einem vorgegebenen Zielpunkt. Das kann auch eine Strecke zwischen den einzelnen Hallen sein, auf der er zusätzlichen Hindernissen ausweicht. Auf diese Weise legt er 1 650 Kilometer jährlich zurück und bringt die Leistung einer Halbtagskraft.
Ein anderer Roboter ist mit einem Hubmechanismus für den Palettentransport ausgestattet. Er übernimmt den Materialfluss zwischen Fertigung und Lager und transportiert je nach Ausführung eine halbe bis ganze Tonne. Als „Zukunftsmusik“ bezeichnet Humiennik den Einsatz eines kombinierten Systems mit Roboterarm. Dieses soll sich im Lager von unterschiedlichen Boxen autonom die angeforderte Zahl an Teilen beschaffen und sie direkt zum Bestimmungsort für die Montage bringen.
In der Webinar-Diskussion kamen aber auch die Hürden für den Einsatz der autonomen mobilen Roboter zur Sprache. May sieht im Vergleich zu anderen Ländern die deutsche Regulierungsdichte als größten Fallstrick. Ihm pflichtet Humiennik bei und rät angesichts der technischen Komplexität des Themas außerdem, nur schrittweise Aufgaben an die Roboter zu übergeben. Der Wunsch, gleich alles eins zu eins vom Mitarbeiter auf den Roboter zu übertragen, lasse sich nicht umsetzen. Einen weiteren Hemmschuh sieht Meißner darin, dass in Deutschland oft zu lange an bestehenden Systemen und Vorgängen festgehalten werde. Dr. Ronald Künneth, Experte für Industrie 4.0 und Automatisierungstechnik der IHK, betonte die Bedeutung der Robotik für die Metropolregion Nürnberg und insbesondere für den Branchen-Cluster „Automation Valley Nordbayern“: „Die Kompetenz unserer Forschungseinrichtungen und Unternehmen umfasst alle Facetten der Automatisierungstechnik – von der Entwicklung über die Software und Systemintegration bis zur Robotik.“ Autor: (tt.)
Kontakt:
- Dr. rer. nat. Ronald Künneth (Vernetzte Produktion, Automotive | eMobilität, Energiewirtschaft, Umweltberatung, Technologietransfer)